Die Regierung in Warschau hatte schon im April ein Embargo gegen russische Kohle verhängt.
Die Regierung in Warschau hatte schon im April ein Embargo gegen russische Kohle verhängt.
Warschau, Kattowitz, Breslau In langen Reihen stauen sich Lastwagen aller Größen auf beiden Seiten der von zerfahrener Kohle rabenschwarz gewordenen Zufahrt zur Zeche Staczic. Ein offener weißer VW-Pritschenwagen hat einen alten Wohnwagen angehängt, in dem zwei Rentner seit Tagen darauf warten, zur Grube vorgelassen zu werden, um dort Kohle zu laden. 300 Kilometer weit seien sie von der polnischen Ostgrenze zur Kohlenmine südlich der schlesischen Metropole Kattowitz gekommen, sagen Lukasz und Gregorz, die nur ihre Vornamen nennen wollen.
Der Laster gehört einem Maurermeister im Heimatdorf, das Geld für den Sprit haben die beiden zu Hause gesammelt, um Kohle für alle zu beschaffen. Denn nicht nur Lukasz und Gregorz, sondern Millionen von Polinnen und Polen haben derzeit das gleiche Problem: akuter Kohlemangel. Viele Menschen zwischen Oder und Bug wissen nicht, wie sie durch den Winter kommen sollen.
Und das trotz der riesigen Kohlevorkommen im Land. Denn der Einsatz von Kohle ist in Polen noch weitverbreitet, nirgendwo in der EU ist Kohle wichtiger.
70 Prozent seines Energiebedarfs deckt das bevölkerungsreichste EU-Mitgliedsland Osteuropas aus Kohle. Zudem hat Polen nach Russlands Überfall auf die Ukraine bereits im April und damit vier Monate vor allen anderen EU-Staaten ein Embargo gegen russische Kohle verhängt. Zwölf Millionen Tonnen hatte Polen 2021 importiert, davon acht Millionen aus Russland. Diese fehlen jetzt.
Massiv wandert Braunkohle in die Heizkraftwerke, die als die größten CO2-Schleudern in der EU stehen. Steinkohle wird produziert für die Stahlindustrie – und für das Heizen in Privathäusern, die keinen Fernwärmeanschluss haben. 96 Prozent der noch in EU-Ländern geförderten 57 Millionen Tonnen Steinkohle kommen aus den polnischen Gruben. Der Staatskonzern PGG ist der größte Steinkohleförderer der EU.
3,8 der 15,5 Millionen polnischen Haushalte heizen bis heute mit Kohle. Kohle ist der billigste der Energieträger – wenngleich sich zu den stark gestiegenen Preisen viele Polinnen und Polen auch den nicht leisten können. Die Inflation in Polen lag bei zuletzt 17,9 Prozent und damit so hoch wie seit 17 Jahren nicht mehr. Haupttreiber sind die Energiepreise.
3000 Zloty (649 Euro) zahlt die Regierung an die ärmsten Familien, die mit Kohle heizen.
3000 Zloty (649 Euro) zahlt die Regierung an die ärmsten Familien, die mit Kohle heizen.
Lukasz und Gregorz warten deshalb weiter beharrlich vor der kleinen Bude am Grubeneingang, wo die Preise für die Kohle für Privatkunden aushängen: 1486 Zloty für eine Tonne Kohle für private Selbstabholer, 317 Euro. Zehn Tonnen können sie maximal bekommen. Die Fuhre lohnt sich: Bei Kohlehändlern müssten sie 2500 Zloty pro Tonne zahlen – den von der Regierung auf 2000 Zloty gedeckelten Preis plus Anlieferung.
„Der Preis hat sich mehr als verdoppelt seit einem Jahr“, berichtet Lukasz, der ältere der beiden und früher Busfahrer. Vier Tonnen Kohle bräuchten er und seine fünfköpfige Familie in der Heizperiode. Wie er das alles bezahlen soll, wisse er nicht, sagt der bärtige Mann, während er an einem Aushang die tagesaktuellen Kohlepreise der Grube abliest. Dahinter ist zu sehen, wie die vier großen Seilscheiben des Förderturms sich drehen und Kohle aus der Tiefe holen.
3000 Zloty (649 Euro) zahlt die Regierung an die ärmsten Familien, die mit Kohle heizen. Doch um die Kosten irgendwie im Griff zu behalten, stehen vor den noch knapp 30 Steinkohlegruben des Landes jeden Tag kilometerlange Schlangen von Lastern. Denn die Kohle, die Polen inzwischen aus Südafrika oder Indonesien statt aus Russland importiert, ist knapp, es fehlen mehrere Millionen Tonnen wegen der stark gestiegenen Nachfrage.
Die Kohleimporte aus Russland zu ersetzen ist schwer und teuer. Die Regierung steuert gegen, indem sie den Kohlepreis auf 2000 Zloty gedeckelt hat. Umgerechnet 8,6 Milliarden Euro hat sie sich Energiepreisdeckel, Heizkostenzuschüsse und Senkung der Mehrwertsteuer für Benzin in diesem Jahr kosten lassen.
>> Lesen Sie hier: Könnte der Heizölpreis 2023 wieder fallen?
Das belastet den Staatshaushalt. Zeitgleich bekommt Warschau die 24 Milliarden Euro an Förderungen und zwölf Milliarden Euro verbilligte Kredite aus dem Corona-Aufbauprogramm der EU wegen des Streits mit Brüssel um die Rechtsstaatlichkeit weiter nicht ausbezahlt. Im Gegenteil: Täglich eine Million Euro Strafe werden Polen von seinen normalen Zahlungen aus der EU abgezogen – wegen der Umweltschäden durch den Braunkohletagebau im polnisch-tschechisch-deutschen Dreiländereck bei Turow.
Der Chef der regierenden national-populistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jaroslaw Kaczynski, rät seinen Landsleuten angesichts des bevorstehenden Winters: „Man muss im Moment alles verheizen, außer Autoreifen. Polen muss sich ja irgendwie aufwärmen.“ Mit Holz, Müll – und eben Kohle.
Das aber ist die große Sorge polnischer Umweltschützer: Zehn Millionen Tonnen Kohle werden in polnischen Haushalten verfeuert, oft in „Kopciuchy“ oder „Drechspatz“ genannten alten Öfen – 87 Prozent der gesamten in privaten Haushalten der EU verbrannten Kohle. Hinzu kommen die riesigen Mengen Braun- und Steinkohle in Polens Kraftwerken.
Schon jetzt liegen fünf der elf Städte in der EU mit der schlimmsten Luftverschmutzung in Polen – darunter das südpolnische Nowy Sacz mit der schlechtesten Luft Europas. Dort liegt die Feinstaubbelastung fast dreimal so hoch wie der Wert, den die Weltgesundheitsorganisation als noch zulässig wertet. 45.000 Feinstaubtote zählen polnische Umweltaktivistinnen und Klimaschützer jedes Jahr, 400.000 auf dem ganzen Kontinent, weil die Abgaswolken aus Belchatow, Europas größtem Braunkohlekraftwerk und CO2-Emittent, bis zum Atlantik ziehen.
„Unsere Kinder haben viermal so viel Feinstaubpartikel im Blut“, berichtet Umweltaktivistin Daria Zawarczynska-Szlapa aus der schlesischen Kohlestadt Myslowice. „Wenn wir die Kohle nicht stoppen, wird das katastrophal enden“, sagt die Mutter, die ihre beiden Kinder wegen des Smogs draußen nur mit Maske spielen lässt. Die Zahl der an Lungenkrebs sterbenden Einwohner nehme rasant zu, zuletzt sei ihre 43 Jahre alte Freundin daran gestorben.
Dennoch setzt die PiS-Regierung weiter auf den fossilen Brennstoff. Fünf neue Kohlekraftwerke sind im Bau. Trotz der Milliardenverluste der staatlichen Kohlekonzerne. Trotz derer immer höheren Kosten, weil der Brennstoff aus immer größeren Tiefen geholt werden muss, was Grubenunglücke durch Methangasexplosionen wieder häufiger werden lässt. Auf 20 Euro Förderkosten pro Tonne werden Australiens Kosten im offenen Tagebau geschätzt. Bei Polens PGG schätzen Experten sie auf mindestens 100 Euro pro Tonne.
Einige Politiker wollen deshalb schneller weg von der Kohle. Jacub Chelstowski hat ins schlesische Zentrum für Freiheit und Solidarität geladen, ein Museum zum Gedenken an den Arbeiteraufstand der Kohlekumpel gegen die Verhängung des Kriegsrechts durch die Kommunisten 1981. Der PiS-Politiker ist Marschall der Wojewodschaft Silesia (Schlesien), was dem Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes entspricht. Er werde keine weiteren Kohlekonzessionen erteilen, sagt er.
In Schlesien will er weitere Gruben schließen. Es werde entschlossen auf Transformation gesetzt – etwa durch Werke des französischen Stellantis-Konzerns zur Produktion von Elektroautos oder der Batteriefertigung in einer Fabrik des südkoreanischen SK-Konzerns. Chelstowski setzt dabei auf die EU: Mit Fördergeldern aus Brüssel will er seine Region in die Zeit erneuerbarer Energien führen. „Und es ist gut, dass die EU die Transformationsgelder direkt an die europäischen Regionen vergibt“, unterstreicht er.
>> Lesen Sie hier: EU will Preis für russisches Öl bei 60 Dollar deckeln
Von mehr als 70 Steinkohleminen vor der Wende sind heute weniger als 30 übrig. Von damals 400.000 Kohlekumpeln gerade noch 80.000. Wer freiwillig geht, bekommt für polnische Verhältnisse üppige Abfindungen von 25.000 Euro. Doch auch die Löhne sind mit gut 2000 Euro monatlich fürstlich – und die Untertage-Wählerschaft gilt als PiS-treu.
Noch immer sind die Kumpel, ihre Gewerkschaften und die dominierenden Staatskonzerne im Energiesektor eine große Macht in Polen. Vor eineinhalb Jahren schlossen sie in Kattowitz mit der Regierung den Kohlekompromiss – Ausstieg erst bis 2049.
Die Regierung in Warschau setzt zur Energieversorgung auf Flüssiggas, die neue Erdgaspipeline Baltic Pipe aus Norwegen und Dänemark – sowie auf Atomkraft. Sechs Reaktoren will der US-Atomkonzern Westinghouse in Polen bauen, die etappenweise von 2032 an in Betrieb gehen sollen. Doch die Finanzfrage für die Meiler ist bisher so ungeklärt wie die Haushaltslage in vielen polnischen Familien angesichts der rasant steigenden Inflation.
Um „von der Energie- und Inflationsmisere abzulenken“, werde die PiS-Regierung „Weltmeister in Sachen Propaganda“, sagt der in Kattowitz geborene Bartosz Wielinski, Reporter der liberalen Zeitung „Gazeta Wyborcza“. Und so hat Regierungschef Mateusz Morwiecki einen alten Evergreen aufgelegt: Polen verlangt wieder einmal Reparationen von Deutschland wegen der massiven Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg.
Mehr: Polens Finanzministerin: „Wir warten nicht auf das Geld aus Brüssel“
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.
Die polnische Energiepolitik erscheint mir ähnlich konfus wie unsere.
Mein Kohlenhändler in Deutschland hat bereits massive Engpässe.
Die zeigt deutlich, über welche ökonomische Kompetenz die osteuropäischen Länder verfügen. Sowohl Polen, die baltischen Länder und die Ukraine haben ja die Meinungsmacht in der EU übernommen und es geht gar nicht schnell genug, um den ökonomischen Abgrund zu erreichen - als Steigbügelhalter: Die EU-Spitze.